Montag, 26. Juli 2004

TMR 2004: Europahütte - Grächen mit dramatischem Höhepunkt




Etappe 2, Montag, 26.07.2000: Europahütte (2.437 m) – Gratweg über Galenberg (2.690 m) - Abstieg nach Grächen (1.620 m)

Länge:                               12 km
Gehzeit lt. Beschreibung:  5:40 Std. 
Tatsächliche Gehzeit:        11:30 Stunden
Unterkunft:                         Hotel Gädi, Grächen
              
Wir waren gewarnt und wussten, dass wir trotz der Etappenlänge von "nur" 12 km eine schwere Etappe vor uns haben. Die unerfreuliche Realität überholt unsere Phantasie schon bald. Dank Einsatz der Bergwacht findet der Tag noch ein gutes Ende.

Um 06:00 Uhr ist die Nacht endgültig zu Ende, wir begeben uns zum Frühstücksbüffet. Bis wir starten, ist es bereits nach 8:00 Uhr. Im Laufe des Tages sollte sich wieder erweisen, dass wir für solche Unternehmungen zu langsam sind. Ab der Hütte führt die Route sofort in Blockwerk, das uns abwechselnd mit Schotterpassagen in den nächsten Stunden immer wieder bremsen wird. Anfangs gehen wir noch in Wolken, aber die Wetterprognose ist gut. Bald nach der Hütte stoßen wir auf einen Gebirgsbach, den wir auf einem primitiven Steg überqueren. Kurz darauf die nächste Herausforderung: Vor uns liegt eine Schlucht, über die sich eine schwankende Hängebrücke spannt. Mit etwas Überwindung wird das Hindernis erfolgreich gemeistert. Ein recht schmaler Steig führt durch Schotterfelder zum eigentlichen Gratweg. Es sind nur etwa 200 m Höhendifferenz zu überwinden, die uns aber heute als sehr viel mehr erscheinen. Wir kommen nur langsam voran, bleiben aber auch immer wieder gerne stehen, um das Panorama zu betrachten. Inzwischen hat sich die Bewölkung gelockert und gibt den Blick auf atemberaubende Bergketten der Walliser Alpen frei. Das Weisshorn (4.506 m) dominiert mit seinem pyramidenförmigen Gipfel die Kulisse. 


In den nächsten Stunden gehen wir unterhalb des Grates auf einem schmalen Saumpfad, der mitunter kaum breiter ist als ein Fuß. Geröll und Schotter erfordern sehr viel Trittsicherheit und Aufmerksamkeit. In diesem Gelände zieht die Gruppe sich schnell auseinander. Der Weg schlängelt sich entlang des Hanges von Einschnitt zu Einschnitt, wobei in jedem Einschnitt ein Geröllfeld zu überwinden ist. Ein Paar kommt uns entgegen. Die Frau hat sich bei einem Sturz in einem Geröllfeld eine Verletzung am Schienbein zugezogen. Wir bieten unsere Hilfe an. Lisa ist als Ärztin gefordert und versorgt die Wunde, wobei wir erfahren, dass die noch vor uns liegenden Geröllfelder zum Teil schwierig zu passieren sind. Aber das ist jetzt nicht zu ändern, wir müssen weiter.

Anna und Paul gehen am Ende der Gruppe. Paul tritt an einer schmalen Stelle ins Leere. Er gleitet ein Stück den Hang hinunter und droht in die Tiefe zu stürzen, wenn nicht ein Fels am Hang Halt bieten würde. Anna hält ihren Schreck unter Kontrolle und hilft Paul zurück auf den Weg. Erst bei der nächsten Rast erfährt die Gruppe von dem noch scheinbar glimpflich verlaufenen Unfall. Einige Hautabschürfungen werden von Lisa fachmännisch versorgt, aber damit ist es nicht getan. Paul ist angeschlagen und fühlt sich nicht gut. Er ist kraftlos und unsicher. Wieder ein Geröllfeld vor uns. Vorsichtig bewegen wir uns über das Blockwerk. Da verliert Paul das Gleichgewicht und stürzt rückwärts zwischen das Geröll. Paul kann ohne fremde Hilfe aufstehen und hat  glücklicherweise außer ein paar zusätzlichen Hautblessuren keine größeren Verletzungen erlitten. Kleine Materialschäden sind zu verschmerzen. Ein Teleskopstock wird dem Berg geopfert. Das ist zwar ökologisch nicht korrekt, aber für diese Problematik fehlen jetzt Rezeptoren.
 
Nach dem Vorfall legen wir eine Pause ein und diskutieren die Frage, ob wir das Weitergehen verantworten können. Gerade einmal die Hälfte des Weges ist bewältigt, und der Weg wird vorläufig nicht einfacher. Als Ergebnis unserer Beratung beschließen wir, per Mobiltelefon die Bergrettung zu rufen. Karl wählt 112 und ist mit der Kantonalpolizei verbunden, die an die Bergrettung weiterleitet. Nach Schilderung des Sachverhaltes schaltet sich ein Arzt ein, mit dem Lisa ein Kollegengespräch führt. Die Bergrettung wird in etwa 30 Minuten einen Helikopter schicken. Katrin geht mit Hund voraus, damit dieser nicht in Panik gerät. Wir ziehen unsere roten Berganoraks an, um besser wahrnehmbar zu sein.  

Karl postiert sich auf einem von der Wand abgesetztem Felsvorsprung. Tatsächlich hören und sehen wir nach etwa 30 Minuten einen Helikopter. Er fliegt am Grat entlang und scheint uns zu suchen. Am Ende des Grates steht Katrin und versucht, den Piloten in unsere Richtung zu weisen. Aber die Besatzung sieht uns nicht. Der Helikopter dreht und fliegt längs des Grates in unsere Richtung. Das Handy klingelt. Es meldet sich jemand aus dem Helikopter und fragt, ob wir den Heli sehen. Das können wir bestätigen und beschreiben unsere Position. Wir stehen in der Y-Stellung am Grat und warten. Aus dem Heli hat man uns jetzt offenbar wahrgenommen, denn der Heli fliegt jetzt genau in unsere Richtung.


In unserer unmittelbaren Umgebung bestehen keine Landemöglichkeiten. Der Heli setzt mit einer Kufe am Hang auf. Ein Mitarbeiter der Bergrettung steigt aus und der Helikopter hebt wieder ab. Über Sprechfunk steht der Bergretter in ständigem Kontakt mit dem Helikopter. Nach kurzem Austausch über die Situation wird die Bergung per Seilwinde vorbereitet. Paul ist mit einer Art Klettergurt am Bergretter fixiert. Jetzt geht alles sehr schnell. Der Heli fliegt an und lässt ein Seil ab. Der Bergretter hängt die vorbereiteten Karabiner ein und gibt das Fertig-Signal. Der Heli steigt auf und fliegt mit den beiden Personen am Seil bis zur Mitte des Tales, bevor das Seil eingezogen wird. Mit den Füßen auf einer Kufe sitzt Paul gesichert am Rand der Ausstiegsluke. Der Heli fliegt ein Stück Richtung Grächen bis zu einem Landeplatz, an dem bereits ein Notarzt wartet.

Nachdem die Bergung wie ein Film abgelaufen ist, müssen wir uns erst wieder fassen. Es geht bereits auf 17:00 Uhr zu, und wir haben noch einen langen Weg vor uns. Vorsorglich rufen wir im Hotel an, um über unsere späte Ankunft zu informieren. Am Ende des Gratweges treffen wir Katrin mit Hund. Nach kurzer Pause mit Informationsaustausch über die aktuellen Ereignisse gehen wir nun in enger Formation den Hang hinunter in Richtung Grächen. Lisa nimmt über Handy Kontakt mit dem Notarzt auf und erfährt, dass er entschieden hat, Paul nach Visp in ein Hospital transportieren zu lassen. Wir lassen uns die Telefonnummer des Hospitals geben und sagen uns, dass wir mit unserem Informationsstand weiter optimistisch bleiben dürfen.

Der Weg führt nun ziemlich steil und holprig bergab durch Kiefernwälder. Psychisch angeschlagen, müde und mit schmerzender Muskulatur versuchen wir, so schnell wie möglich zu gehen. Ein Anruf im Hospital ergibt lediglich, dass gegen 19:00 Uhr der Arzt zu sprechen sei. Kurz vor Ende des Hanges sehen wir bereits den Weg nach Grächen. Es sind noch mindestens 5 km zu gehen. Gisa und Karl gehen jetzt in dem ihnen maximal möglichen Tempo im „Nordic-Walking-Schritt“ voraus, um dafür zu sorgen, dass wir bei der Ankunft noch ein Abendessen erhalten. Zeit und Distanzangaben erweisen sich als sehr unzuverlässig. Nach etwa 30 Minuten im Höchsttempo ist Grächen angeblich nur um einen Kilometer näher gekommen. Der Weg zieht sich endlos. Kurz vor Grächen hat Karl die Eingebung, Anna anzurufen um zu empfehlen, die restliche Wegstrecke ab dem ersten Gasthaus, auf das sie stoßen werden, mit einem Taxi zurückzulegen. So besteht zumindest noch die Chance, vor Küchenschluss in Grächen einzutreffen. Lisa und Anna sprechen in der Zwischenzeit telefonisch mit dem behandelnden Arzt, der Entwarnung gibt. Paul soll über Nacht noch im Hospital bleiben, wird dieses aber voraussichtlich am nächsten Tag vorlassen können.  

Um 19:40 treffen Gisa und Karl im Hotel Gädi ein. Der Patron ist sehr fürsorglich und erklärt, dass wir in dem benachbarten Restaurant seines Bruders noch bis 22:00 Uhr essen können. Nach einer Dusche fährt auch das Taxi mit Anna, Lisa und Katrin mit Hund vor. Sie wirken schon wieder ganz munter. Im empfohlenen Gasthaus haben sie bereits ein großes Bier getrunken, während sie auf das Taxi warten mussten. Jetzt sind wir hungrig. Die Dusche fällt für die drei erst einmal aus, es geht sofort weiter zur Pizzeria. Anna konnte in der Zwischenzeit mit Paul telefonierte und weiß zu berichten, dass Paul zwar erschöpft, aber ansonsten guter Dinge sei und voraussichtlich am nächsten Tag das Krankenhaus verlassen könne. Mit dieser guten Nachricht fällt die Müdigkeit schnell von uns ab.

Beim Essen und beim Wein durchleben wir noch einmal den aufregenden Tag, diskutieren unser weiteres Vorgehen und überlegen, was wir Anne B. berichten wollen. Mit Anne B., die sich während unserer Tour bei ihren erkrankten Eltern in den USA aufhält, haben wir einen täglichen Informationsaustausch per SMS vereinbart. Gestern haben wir das bereits nach der langen Etappe versäumt, worauf Anne B. dann auch prompt nachgefragt hat: „Was ist mit der TMR-Gruppe? Ich höre nichts von euch!“ Heute müssen wir uns endlich melden. Karl schreibt an Anne B.: „Die Tour ist für die Gruppe zu schwer. Morgen treffen wir neue Entscheidungen.“ Anna wird in einer weiteren SMS an Anne B. vorsichtig etwas deutlicher. Gemeinsam beschließen wir, die für den nächsten Tag vorgesehen Etappe ausfallen zu lassen. Statt dessen wollen wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Visp fahren, um Paul im Hospital abzuholen und anschließend gemeinsam nach Saas Fee reisen. Der geplante Regenerationstag in Saas Fee kommt nach diesen beiden aufregenden und anstrengenden Tagen gerade richtig. Wir brauchen Erholung und wollen in Ruhe über das weitere Vorgehen beraten und entscheiden.

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